Warum ich das Ende mit dem Anfang plane oder die Tortur der Prämisse

Was passiert, wenn wir an einem Marathon teilnehmen, ohne das Ziel zu kennen?

Würdet ihr Besucher zum Essen einladen und dann beim Kochen alles planlos zusammenwerfen?

Im ersten Fall würden wir ewig rennen und niemals ankommen, im zweiten Fall einen geschmacklosen Brei servieren. Diese Erkenntnisse sind genauso logisch wie einfach, aber beim Schreiben so unendlich schwer umzusetzen. Wie es mir ergangen ist, als ich mich mit einem unstrukturierten Text bei Agenturen und Verlagen beworben habe, habe ich in diesem Beitrag beschrieben.

Ein guter Text ist wohl durchdacht, gespickt mit subtilen Hinweisen, die auf das Ziel hindeuten, jedoch nicht so leicht als Hinweis zu erkennen sind. Doch wenn der Leser den Schluss liest, dann sollte er die Erkenntnis erlangen, dass es am Ende genau so kommen musste, dass alles, was geschehen ist, zielführend war. Er hat es beim Lesen nur noch nicht erkannt, doch jetzt liegt es klar vor ihm. Er ist zufrieden und legt das Buch mit einem guten Gefühl zur Seite. So wäre es perfekt. Für solch ein Ergebnis ist jedoch Planung notwendig. Wie unbefriedigend sind Geschichten, in denen Handlungsstränge im Nichts enden oder der Protagonist zufällig von einer Situation in die nächste stolpert, ohne zu wissen, was er eigentlich will. So kann ich für mich selbst schreiben, aber nicht, wenn ich viele Leser erreichen möchte.

Die Prämisse oder die zentrale dramatische Frage

So jetzt wird es etwas abstrakt, aber in den Folgebeiträgen wird es wieder einfacher werden. Es geht um die Prämisse (lat. praemissum: das Vorausgeschickte) oder auch zentrale dramatische Frage genannt, den Kern der Geschichte, wenn man alles, wirklich alles außen herum weg lässt.

Die Prämisse fasst in einem Satz die Verwandlung zusammen, die eine Romanfigur im Laufe der Handlung durchmacht. Die Prämisse sollte einen Aspekt der Hauptperson enthalten, der durch einen Konflikt zu einer Lösung führt.

Beispiele für Prämissen

  • selbstlose Liebe führt zu Glück
  • das Erkennen von Wahrheit führt zu Gerechtigkeit
  • Heldenmut führt nicht zum Sieg
  • ungestillte Sehnsucht führt zu Selbstmord

Die drei Variablen der Prämisse

Beispiel: Zusammenhalt der Gefährten (Ausgangspunkt und Krise) führt zu Vernichtung des Bösen (Lösung)

Das könnte zum Beispiel die Prämisse von „Herr der Ringe“ sein, einer Geschichte, die fast jeder kennt. Also auch ein Werk von über tausend Seiten könnte man in diesen wenigen Worten zusammenfassen. Diese Prämisse ist jetzt einfach mal meine persönliche Interpretation.

„Zusammenhalt der Gefährten“ ist auch Beginn der Geschichte, denn die Gruppe der Hobbits zieht los, um den Ring zu vernichten und wird immer wieder sich steigernden Bewährungsproben (Krisen) ausgesetzt, bis es im Höhepunkt (Vernichtung des Ringes im Schicksalsberg = Lösung) gipfelt. Die Figuren wachsen bei Bewältigung der Schwierigkeiten. Man denke an Sam, den wahren Helden, der Mut beweist und seinen Herrn Frodo durch den Sumpf und die Berge führt. Der Zusammenhalt der Gefährten führt am Ende zur Vernichtung des Bösen (Lösung).

Dabei ist es nicht wichtig, dass die Prämisse logisch ist, sondern der Autor versucht, sie durch seine Geschichte glaubhaft zu machen, sie am Ende möglichst ökonomisch zu beweisen. Dann erreicht er sein Ziel und ist eher fähig, irrelevante Geschehnisse schon beim Schreiben wegzulassen, weil er sie erst dann als überflüssig erkennen kann.

Seit ich das mit der Prämisse weiß, überlege ich mir beim Lesen meist, welche zentrale Frage den Büchern zugrunde liegen könnte. Ich finde es interessant und lehrreich zu erfahren, wie andere Autoren ihre Geschichten konstruieren und Spannung aufbauen.

Anja Fahrner - Autorin
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