CharacterofSeptember Tag 11 – 20: Weltsicht und schlechte Angewohnheit

Während ich darüber brüte, wie ich Ralyana einer der heutigen Fragen „Bist du optimistisch/realistisch/pessimistisch und warum?“ in für sie verständlichen Begriffe verpacke, schaut sie verträumt nach oben, als spiele sich zwischen der blauen Unendlichkeit des Himmels und der gleißenden Sonnenscheibe eine spannende Geschichte ab. „Wie stellst du dir deine Zukunft vor?, ringe ich mich schließlich zu einer Formulierung durch.

„Hm?“ Sie schaut mich irritiert an, auch ein wenig vorwurfsvoll, als hätte ich sie bei etwas Wichtigem gestört.

„Deine Zukunft. Was meinst du, wie sie aussehen wird?“

„Zukunft?“ Ein Schatten huscht über ihre Miene. „Wie soll die schon aussehen? Ich werde hier leben, bis ich selbst alt und vertrocknet bin. Vielleicht erwischt mich auch ein Manture,  ein Sadoso oder ein halbverhungerter Bullrock vorher. Wer soll das schon wissen?“ Die Worte klingen nüchtern, fast schon unbeteiligt.

Also schätzt sie ihre Lage ziemlich realistisch ein, denke ich bei mir. Ihr Leben ist wirklich trostlos und ich würde ihr gerne sagen, dass es nicht für immer so bleiben wird. Stattdessen frage ich: „Welche schlechte Angewohnheit würdest du gerne loswerden?“

„Hm. Ich will eigentlich gar nichts loswerden.“ Sie schaut wieder in den Himmel. „Aber meine Mutter … und ja auch Shae … und die anderen.“ Sie wischt sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Oft sagen sie, ich verplempere Zeit, bringe nicht genug Essen, bin nicht schnell genug. Shae nennt mich oft Trödelmeisterin. Das mag ich gar nicht.“ Sie verstummt mit einem Anflug von Trotz um ihre Mundwinkel.

„Und? Haben sie recht?“

Sie sieht mich schweigend an.

„Ich bin nicht hier, um dir Vorwürfe zu machen“, sage ich mitfühlend. „Warum trödelst du so oft?“

Sie zögert. „Du bist die Erste, der ich das sage, weißt du? Bei den anderen muss ich immer Ausreden erfinden, warum ich so viel Zeit für manche Dinge benötige.“ Mit einem zaghaften Lächeln sagt sie: „Wenn ich auf Nahrungssuche gehen soll, lege ich mich manchmal in den Schatten und stelle mir mein Leben anders vor. Wie es früher zur Zeit der Sippen gewesen wäre. Das ist schön und hilft mir, meine Mutter besser zu ertragen.“

„Du träumst und erfindest Ausreden dafür?“

„Naja, ich versuche es. Aber Shae merkst das meist … und meiner Mutter kann ich auch nichts vormachen. Doch sie fragen nicht weiter. Meine Träume gehen niemanden was an.“

„Hast du Angst vor dem Tod?“

„Nein“, erwidert sie spontan. „Wir werden geboren, um irgendwann zu sterben. So ist das halt. Jedes Tier stirbt, das eine früher, das andere später. Wen kümmert es?“

Anja Fahrner - Autorin
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