Vorwort
Das ist eine Geschichte vom Beginn meiner schriftstellerischen Arbeit, etwa 2009, als ich damit begonnen habe, die Welten für mein Alkatar-Universum zu konstruieren. Meine Kurzgeschichte schildert eine konsumorientierte, emotional verarmte Gesellschaft, aber da will ich nicht zu viel verraten. Jedenfalls beflügelte mich dieser Planet zu einer Geschichte, die ich spontan niederschrieb. Erst 2016 erinnerte ich mich wieder an mein Werk, als ich die Ausschreibung von WIRmachenDRUCK.de las, den Schreibwettbewerb für die Science-Fiction Anthologie Parallelwelten. „Der glückliche Keks“ passte dazu und ich entschloss mich, ihn einfach mal auf die Reise zu schicken. Aus etwa 200 Geschichten wurden 41 ausgewählt und mein „Keks“ war dabei.
Der glückliche Keks
Ulrika
9.47 Uhr, 24.12.2530, Innovationstag.
Ulrika richtete sich abrupt auf, blickte hektisch zu den neonfarbenen Zeichen, die sich auf der mit gelben Streifen dekorierten Wand einzubrennen schienen.
Ich habe verschlafen. Ihr Herz begann zu hämmern, schien ihren Brustkorb sprengen zu wollen. Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen und den Ereignissen des nächsten Tages entgegen gefiebert. Immer wieder hatte sie nachgerechnet, ihre verdienten Vergnügungspunkte zusammengezählt, die sie sich für diesen besonderen Tag aufgespart hatte. Schließlich war die Morgendämmerung hereingebrochen und mit ihr eine ermattende Müdigkeit. Als der Weckruf erklungen war, hatte sie ihn beendet, um noch ein paar Minuten dösen zu können. Ein paar Minuten. Das war vor über einer Stunde gewesen.
Mit einem Sprung war sie aus dem Bett, rannte in ihr Badezimmer. Es drängte sie, in irgendwelche Kleidung zu schlüpfen und sofort loszurennen. Doch das konnte sie nicht, hatte sie noch nie getan. Stattdessen betrachtete sie ihr fleckiges blasses Gesicht im Spiegel, ihre dünnen aschfarbenen Haare. Dafür muss ich mir Zeit nehmen. Das ist doch das, wonach mich alle beurteilen. Sie zwang sich zur Ruhe, machte sich routiniert an die Arbeit. Sie griff in das Meer der Produkte vor sich, mitten in die bunten Fläschchen und Tuben. Da ist sie, die Grundierung. Mit fahrigen Fingern öffnete sie das unscheinbare braune Töpfchen, tauchte ein Schwämmchen in die ölige bräunliche Masse und fuhr sich damit über ihr Gesicht. Befriedigt verfolgte sie, wie die Flecken heller wurden, schließlich verschwanden. In rascher Folge baute sie Schicht um Schicht auf, betonte farblich Augen, Mund und Wangen. Jetzt noch die Haare. Vorsichtig mit der Extension. Sie ist unerschwinglich. Eine lockige, mit blonden und roten Strähnen durchzogene dunkle Mähne umwallte ihren Kopf.
Fertig.
Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild. Nichts erinnerte mehr an die unscheinbare Frau, die eben noch aus dem Bett gestiegen war.
Sie war perfekt.
Sie schlüpfte in einen pinkfarbenen Hosenanzug und pinkfarbene Schuhe. Flugs verließ sie ihre Wohnung, eilte über leere Straßen durch die grauen Häuserschluchten, bis sie sich einem pinkfarbenen Pulk näherte. Menschen drängten sich, schubsten und schimpften, sahen drohend zu dem Neuankömmling, in ihren Mienen einen Ausdruck von Verzweiflung und Wut.
Niemand wird mich hier vorlassen. Resigniert reihte sich Ulrika am Ende der Menschenmenge ein, die zum „Platz der Neuerung“ strömte. Immer wieder schaute sie zu den gepanzerten Wachen, die die Straßen flankierten, auf ihre mit Betäubungspatronen geladenen Waffen.
Der Pulk bewegte sich nur schleichend, waberte mehr seitwärts als nach vorne. Es sind so viele vor mir, dachte sie verzweifelt. So unendlich viele. Es steht doch schon jetzt fest, dass ich erst mit Verzögerung die neue Fashion erhalten werde. Jeder wird mich anstarren, weil ich mit den alten Klamotten rumrenne. Sie kannte diese Blicke, die sagten: „Na Ulrika, wieder mal zu spät gewesen? Schau dich doch an. Du läufst rum wie die Werkarbeiter, welche unsere alten Sachen tragen. Du, eine der Macher.“
Sie kämpfte mit den Tränen.
Endlich näherte sich der Pulk dem Zentrum des Platzes, den riesigen Bildschirmen, die weit über den Köpfen der Menschen schwebten. Drei Vertreter der mächtigsten Modehäuser waren zu erkennen, hielten ihre Schöpfungen vor sich; drei neue Farben, drei neue Formen, alle deutlich unterschiedlich zu den aktuellen Farben und Formen. Wer wird diesmal gewinnen? Wie gebannt schaute Ulrika nach oben.
Die unter den Personen eingeblendeten Zahlen rasten, wurden langsamer, blieben stehen.
„Der Gewinner der Umfrage unseres heutigen Innovationstages ist das Haus Schrebel“, hallte eine schrille weibliche Stimme über den Platz.
Jubel brandete aus den Lautsprechern.
Auf dem Bildschirm war ein blonder Mann zu sehen, der mit schneeweißen, blitzenden Zähnen bis zu den Ohren grinste. Abfällig betrachtete Ulrika seine Dreiecksfigur, die vollen Haare, die bestimmt auch nicht echt waren. Er ist einer derjenigen, die sich Gelpakete an Stellen implantieren lassen, wo eigentlich Muskeln sein sollten. In den Modeforen wird darüber gelästert.
Er hielt Kleidung in giftgrüner Farbe hoch.
Alles wird in Grün rumlaufen, während ich immer noch dieses fürchterliche Pink anhabe. Der Panik nahe beobachtete sie, wie die Tore vom Haus Schrebel geöffnet wurden.
Die Menschenmenge stürmte hinein, bewacht von den grimmigen Sicherheitskräften. Nach einer kurzen Pause verwandelte sich der pinkfarbene Strom in eine grüne Flut, die in alle Richtungen davonstrebte.
Resigniert stand Ulrika ganz hinten in der Schlange, trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht bekomme ich doch noch etwas ab. Sie wusste, dass die Ware begrenzt war. Erst jetzt, nachdem der Gewinner feststand, würde die Produktion richtig in Gang kommen.
Der grüne Strom war ins Stocken geraten, pinkfarben gekleidete Personen kamen wieder heraus – mit wütenden, enttäuschten Mienen.
Das Lager war leer.
Ulrika verharrte, war wie gelähmt. So konnte sie doch nicht weiterleben. Sie würde sich krankmelden müssen, um dem Spott zu entgehen.
„Ulrika“, ertönte eine vertraute Stimme. „Ich habe etwas für dich.“
Ulrika wandte sich um.
Da stand ihre beste Freundin Veronika vor ihr, in grün gehüllt – und hielt ihr ein grünes Kleid vor die Nase.
Glückselig fiel sie ihrer Retterin um den Hals.
Veronika
Zufrieden hatte Veronika verfolgt, wie das grüne Kleid ihre Freundin glücklich gemacht hatte. Sie beneidete sie für ihre Lebendigkeit, die Fähigkeit, mit den Ereignissen mitzufiebern, ein Teil davon zu sein.
In ihrem neuen grünen Outfit lief sie mit gesenktem Kopf neben der sprudelnden Ulrika her. Warum ist sie überhaupt mit mir zusammen? Diese Frage quälte sie nicht zum ersten Mal. Verstohlen sah sie zu ihrer Freundin, ihrer perfekt zurechtgemachten Miene, die vor Glück zu strahlen schien. Ich grübele zu viel und muss völlig langweilig sein. Im Gegensatz zu Ulrika hatte sie immer Vergnügungspunkte übrig. Sie hielt nichts von den Freizeitparks, den unzähligen kurzlebigen Modeartikeln und ging lieber in der Einsamkeit der Nacht spazieren. Eigentlich machte sie das ganze Theater nur mit, um nicht negativ in der Gesellschaft aufzufallen – und um von ihrer einzigen Freundin Ulrika anerkannt zu werden.
Regelmäßig besuchte sie den für ihren Wohnblock zuständigen Seelenarzt, um ihm ihre Gedanken mitzuteilen. Er bestellte sie immer wieder ein, obwohl er sie nicht für systemgefährdend hielt. „Der Konsum ist der Motor unserer Gesellschaft“, pflegte er zu sagen. „Nur ihm haben wir unseren Wohlstand zu verdanken. Er ist unsere Mutter und unser Vater.“
Fügsam nickte sie bei seinen Worten, lächelte. Lächelnd verließ sie ihn auch, um ihm die Illusion eines Erfolges zu vermitteln, doch vor seiner Tür fiel ihr Lächeln in sich zusammen.
„Komm“, Ulrika zog sie in ein öffentliches WC. „Das muss ich gleich anprobieren.“
Während sich ihre Freundin umzog, dachte Veronika darüber nach, warum sie so gern zu dem Seelenarzt ging. Er hört mir zu. Ja, genau das ist es. Er hört mir richtig zu. Er wartet nicht nur ab, bis ich meine Geschichte erzählt habe, um über sich selbst zu reden. Er ist wirklich an meinem Seelenleben interessiert.
Freudestrahlend kam Ulrika aus dem WC heraus, drehte sich um ihre eigene Achse: „Du hast mein Leben gerettet“, flötete sie.
Ihr Leben gerettet! Gibt es sonst nichts Wichtigeres auf der Welt als pinkfarbene Kleidung, die ein halbes Jahr später grün wird? Eine bleierne Schwere legte sich auf Veronikas Herz.
„Zieh nicht so ein Gesicht.“ Ulrika zwinkerte neckisch und stieß ihre Freundin mit dem Ellenbogen an. „Was ist mit dem neuen Duft?“
„Den habe ich noch nicht. Ich dachte, die Kleidung ist erst einmal wichtiger. Ob du in Pink anstatt in Grün rumläufst, fällt gleich auf, doch den Duft merkt man erst, wenn man nah genug an dir dran ist.“
„Schon gut. Ich bin ja zufrieden. Hast du meine neue Werbung schon gesehen? Die mit dem glücklichen Keks?“
Veronika schüttelte den Kopf. Sie interessierte sich nicht sonderlich für die Werbung.
Ulrika zerrte ihre Freundin vor ein riesiges blinkendes Plakat, auf dem ein freudestrahlender, herzförmiger Keks zu sehen war, der seinen Konsumenten beim Verzehr glücklich machen sollte.
„Die Zeichnung ist gut“, sagte Veronika. Das ist nicht gerade eine neue Idee, dachte sie bei sich.
„Es gefällt dir nicht.“ Ulrika wirkte enttäuscht. „Ich weiß, das ist nicht so originell, aber kaum jemand fällt noch etwas Neues ein. Wir können nur auf altes Material zurückgreifen.“
„Ist doch nett“, antwortete Veronika tröstend. „Es geht einem besser, wenn man den glücklichen Keks sieht.“
Sie trotteten weiter.
Flüchtig dachte Veronika an das, was sie in der Schule gelernt hatte. Meist war es um die Pflege des eigenen Körpers gegangen, um Ratschläge, wie man sich am Besten darstellt. Immer hatten die Produkte im Mittelpunkt gestanden, die Mode. Es musste doch noch etwas anderes geben, was wichtig war. In einem verbotenen Buch, das sie in den dunklen Bezirken gefunden hatte, hatte sie gelesen, dass es einst wirkliche Eltern gegeben haben soll. Ein Mann und eine Frau vom eigenen Blut, die sich um ihre Kinder gesorgt, sie geliebt hatten. Doch sie waren an der Erziehung gescheitert, hatten ihre Kinder vernachlässigt und der Obhut der Medien überlassen. Die Wirtschaft hatte die Eltern ersetzt. Es gab keine natürlichen Geburten mehr, keine Eltern, keine unkontrollierte Fortpflanzung.
Veronika fühlte sich leer. Nur am Rande hörte sie Ulrikas überschwängliche Stimme, die von der Werbung und der Mode berichtete. Jetzt mache ich genau das, was ich bei anderen so hasse.
Gegen Mittag betraten sie den riesigen, glänzenden „Turm der Ernährung“, fuhren mit dem Fahrstuhl ganz nach oben. Leise säuselnde Musik empfing sie in einem gläsernen Saal, in dem zahllose Menschen plappernd vor bunten Kartons saßen. Veronika und Ulrika liefen auf den Warmhalteschrank mit den durchsichtigen Türen zu. Dort sprangen ihnen die kunterbunten Bilder der Mahlzeiten ins Auge. Auf vielen waren lachende Früchte und glückliche Menschen abgebildet. Veronika nahm sich eine der Packungen, auf der ein adretter Jüngling nach dem Konsum des Gerichtes mit verklärtem Gesicht durch den Himmel flog.
Die beiden Frauen setzten sich an einen freien Tisch.
Während Veronika mit halbem Ohr der Gruppe neben sich zuhörte, die sich über das Harmonieren des neuen Modeduftes mit der aktuellen Farbe unterhielt, öffnete sie die Verpackung ihres Essens. Eine dreigeteilte Schale mit verschiedenfarbigem Matschhaufen erschien vor ihr. Oft suchte sie sich ihre Nahrung nur nach den Bildern darauf aus; nach der Illusion des Glückes, das sie bisher nicht gefunden hatte. Ihr Blick schweifte nach draußen in die Ferne, auf den Rand der riesigen Glaskuppel, die ihre Welt begrenzte. Dort draußen befand sich eine andere Welt – eine dunkle Welt, bedeckt mit den Errungenschaften, dem Nachlass ihrer Gesellschaft. „Meinst du wirklich, dass es dort nie Leben gab?“, fragte sie nachdenklich.
„Du meinst da draußen? Nein. Wieso sollten sie uns belügen? Meinst du, die würden eine lebendige Welt mit Unrat bedecken?“
Lustlos stocherte Veronika in dem dreifarbigen Brei vor sich herum. In ihrer Fantasie sah sie ein Bild aus dem verbotenen Buch; bewaldete Berge im Dunst des herannahenden Tages, ein kristallklarer See, in dem sich bauschige Wolken spiegelten.
Genau so stellte sie sich das Paradies vor.